Meinst du ich möchte mit 58 so aussehen wie du?
Am Samstagabend war die Piazza Grande in Locarno fest in Schweizer Hand. Für Massenunterhaltung sorgte die Weltpremiere der ebenso fröhlichen wie anregenden Komödie «Giulias Verschwinden» von Christoph Schaub. Das scharfsinnige Drehbuch stammt von Schriftsteller Martin Suter.
Plötzlich ist sie weg. Giulia (Corinna Harfouch) ist gerade im Bus unterwegs zur Feier ihres 50. Geburtstags. Da stellt sie fest, dass ihre Reflektion in der Fensterscheibe fehlt. Auch die übrigen Passagiere nehmen sie nicht war. Ein Abstecher in ein paar Läden soll den Frust vergessen lassen. Doch auch dort wird sie nicht wahrgenommen. Bis sie im Brillenladen von einem fremden Mann (Bruno Ganz) angesprochen wird. Anstatt zu ihren Freunden ins Restaurant zu eilen, lässt sich Giulia zu einem Drink einladen.
Derweil wartet die Geburtstagsgesellschaft immer ungeduldiger. Stefan (Stefan Kurt) stichelt seinen schon einige Jahre älteren Lebenspartner Lorenz (André Jung). Lena (Teresa Harder) und Alexander (Max Herbrechter) warnen vor Krampferscheinungen beim Sex. Thomas (Daniel Rohr) ist stolz auf seine Fitness durch Boxtraining – wenn da nur seine Vergesslichkeit nicht wäre. Dann taucht auch noch die ungezwungene Alessia (Sunnyi Melles) auf und amüsiert sich köstlich über das sich um Altersbeschwerden drehende Gespräch.
Im Heim für begleitetes Wohnen im Alter feiert unterdessen Léonie (Christine Schorn) ihren 80. Geburtstag. Sie bringt durch ihr unziemliches Verhalten ihre verklemmte Tochter Helen (Babett Arens) genussvoll in Verlegenheit. Und in der Stadt sind die beiden Teenagerinnen Jessica (Elisa Schlott) und Fatima (Hannah Dietrich) auf der Suche nach dem perfekten Geburtagsgeschenk für ihren 18-jährigen Schwarm. Als sie goldene Turnschuhe stehlen wollen, landen sie auf dem Polizeiposten – sehr zum Entsetzen von Jessicas getrennt lebenden Eltern Cornelia und Max (Susanne-Marie Wrage, Samuel Weiss). Sie sind doch Freunde von Jessica, ihnen kann sie alles erzählen. Wie peinlich!
Nach «Happy New Year» hat Regisseur Christoph Schaub mit «Giulias Verschwinden» schon wieder einen Episodenfilm gedreht, der wieder in Zürich spielt. Doch das erkennen fast nur Ortskundige. «Giulias Verschwinden» spielt in einem in Dunkelheit gehüllten Zürich der Zukunft, in dem alle Menschen Deutsch sprechen. Das liegt daran, dass das Drehbuch von Schriftsteller Martin Suter stammt und für Schaub klar war, dass der Text nicht in Mundart übersetzt werden sollte: «Dies ermöglichte uns auch, im ganzen deutschsprachigen Raum Schauspieler zu suchen.»
So konnte er neben dem Zürcher Bruno Ganz (der im Film aus Hamburg stammt) auch eine Hauptrolle mit Corinna Harfouch besetzen. Die beiden Hauptdarsteller harmonieren hervorragend. Nachdem Ganz in «Pane e tulipani» eine vergessene Frau zum Erblühen brachte, darf er in «Giulias Verschwinden» einer unsichtbaren Frau neues Leben einhauchen. Ganz ist auch ohne Worte schon sehr charmant. Für die Frauenherzen schmelzenden Schmeicheleien ist aber ganz eindeutig Suter besorgt: «Es gibt keinen Anlass, bei dem eine Frau wie sie nicht zu spät kommen dürfte.» Auch sonst ist das Drehbuch voller schlagfertiger Dialoge und herrlicher Bonmots über das Alter und die Befindlichkeit verschiedener Generationen.
Besonders die Freunde von Giulia, alle so um die 50, wissen nicht so recht, ob sie sich mehr über die ersten Alterbeschwerden beklagen sollen oder sich doch eher darüber freuen dürfen, dass die Unerfahrenheit und die Verträumtheit der jungen Jahre weit zurückliegen. Lösungen für das unbeschadete Überstehen des Alterungsprozesses bieten Suter und Schaub nicht. Selbst die Behauptungen des Charmeurs, dass er keine Fotos aufbewahrt und seine Geburtstage ignoriert, um ohne Alter immer in der Gegenwart zu leben, stellen sich am Ende als verschmitzte Schummelei heraus. Über allem schwebt die «Die Geburt der Venus» von Sandro Botticelli als Symbol für das Unerreichbare: unvergängliche Jugend und Schönheit.
Schaub hat mit zwei HD-Kameras gearbeitet, um «die Geschichte mit Tempo und Intensität zu erzählen und die Dialoge als spritzigen Schlagabtausch zu gestalten.» Diese Arbeitsweise ermöglichte es ihm auch, den Film in 23 Tagen abzudrehen. Durch die reduzierten Schauplätze wirkt die Inszenierung bisweilen zwar ein wenig wie ein Bühnenstück. Doch die treffenden Dialoge und die spielfreudigen Schauspieler sorgen dafür, dass der Film trotz eingeschränkter Bewegungsfreiheit immer einen lebendigen und unbeschwerten Eindruck vermittelt.
Je nach Geschmack hat die Arbeitsweise mit den digitalen Kameras einen sichtlichen Nachteil: da viele Szenen mit wenig Licht gedreht wurden, ist das Bild ziemlich düster und leicht verschwommen, als ob ein Weichzeichner eingesetzt wurde. Eine bewusste Entscheidung war vermutlich die eher reduzierte, wenig intensive Farbpalette. Die Bildgestaltung ist durch die vielen Spiegel und zahlreiche den Blick verdeckenden Objekte meist sehr reizvoll, teilweise aber auch ein wenig nervös, besonders wenn die Handkamera zu wackelnd eingesetzt wird. Die formalen Schwächen schmälern allerdings den Genuss dieser klugen Komödie über das Alter nur sehr geringfügig.
Fazit: «Giulias Verschwinden» ist eine lustvolle Komödie, die zum Lachen und Nachdenken anregt.
Bewertung:
(Bilder: ©Columbus Film)
Witziger, etwas langatmiger, redundanter Film für ältere Leute.
Typisch Suter, möchte man sagen.
Wer die Bücher nicht kennt von M. Suter, alle lesen!