Pink Apple 09: Marathon von Newcastle bis Pittsburgh

«Newcastle»

Filmfestivals halten immer ein Dilemma bereit. Um einen Überblick zu gewinnen, muss man sich viele Filme ansehen. Doch je mehr Filme ich mir ansehe, um so weniger kann ich schreiben. Beim Pink Apple 09 habe ich am Samstag erstmals seit vielen Jahren wieder einmal versucht, ob ich mich durch fünf Filme an einem Tag durchkämpfen kann. Wie sich herausstellte, war es nicht wirklich ein Kampf – auch wenn nicht alle betrachteten Werke überragend waren.

Zum Auftakt sah ich mir schon am Freitag das Drama «Newcastle» an. Der Film spielt nicht etwa in England, sondern in Newcastle, New South Wales. Das ist eine Ortschaft, die gemäss Wikipedia oftmals als siebtgrösste Stadt in Australien bezeichnet wird. Allerdings erstrecken sich die Siedlungen über weite Teile. So verwundert es wenig, dass die Gegend im Film wie ein Kaff aussieht. Hauptfigur Jesse (Lachlan Buchanan) träumt dann auch davon, die Gegend bald zu verlassen.

Gründe für eingeschränkte Aussichten auf persönliches Glück gibt es einige im Leben von Jesse. Da ist sein älterer Bruder (Reshad Strik), der von seiner Freundin/Frau vor die Tür gestellt wurde, und nun wieder bei den Eltern wohnt. Dessen Karriere als Profi-Surfer wurde durch eine Verletzung am Knie zerstört. Auch mit seinem schwulen Bruder Fergus (Xavier Samuel) versteht sich Jesse nicht besonders, nimmt ihn aber gegenüber seinen Surfer-Kollegen immer in Schutz. Der Ausweg aus der Misere soll der Erfolg als Surfer sein.

Vor diesem Spannungsfeld erzählt Regisseur und Drehbuchautor Dan Castle eine einfühlsame und intensive Geschichte über die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Die Nebengeschichte mit dem schwulen Bruder ist zwar nett eingeflochten, aber dennoch beinahe vernachlässigbar. So ist «Newcastle» ganz klar mehr Surfer- als Schwulenfilm. Die Aufnahmen in den Wellen sind – zumindest für mich als Laien – einfach überwältigend. Etwas konventionell werden die Konflikte geschildert, aber die Emotionen fühlen sich trotzdem echt an.

Bewertung «Newcastle»: 5 Sterne

Von Samstagmittag bis Sonntagnachmittag sah ich dann mit «Were the World Mine», «To Each Her Own» und «Ready? OK!» drei Low-Budget-Produktionen, die zwar gewisse Ähnlichkeiten aufweisen, aber dennoch nicht unterschiedlicher hätten sein können. Eine durch das niedrige Budget entstandene Gemeinsamkeit sind zum Teil zu lange Einstellungen. Wer nicht genügend Geld zur Verfügung hat, stellt bei Zeitnot nämlich gerne die Kamera einfach an einen Ort und vertraut auf die Wirkung von Dialogen und Schauspielern.

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass «Were the World Mine» über die einfallsreichste Idee verfügte, «To Each Her Own» über die reizvollsten Darsteller und «Ready? OK!» über den charmantesten Humor. Die positiven Aspekte von «To Each Her Own» haben sich damit leider schon erschöpft. Das ist fast schon ein wenig traurig, weil die in Zürich anwesende Regisseurin Heather Tobin auch gleich noch als Drehbuchautorin, Kamerafrau, Produzentin (10’000 Dollar über Kreditkarten), Cutterin und musikalische Leiterin tätig war.

Ob sie sich nun einfach mit all diesen Aufgaben übernommen hat oder ob der Film auch mit einem ansehnlicheren Budget gescheitert wäre, lässt sich natürlich nicht beurteilen. Beanstanden lassen sich jedoch viele übermässig didaktische Szenen und besonders die repetitiven Dialoge, in denen die Hauptfiguren immer wieder die gleichen Probleme wiederholen. Worum es überhaupt geht? Eine junge Frau (Hannah Hogan) möchte mit ihrem Ehemann schwanger werden. Da verliebt sie sich in die wilde Casey (Tracy Rae). Auf mich als heterosexuellen Mann hat die Geschichte äusserst verkrampft gewirkt. Aber vielleicht gibt es ja eine Person, die den Film gesehen hat und davon begeistert ist. Dann würde ich gerne die Gründe hören, weshalb der Film trotz aller Vorbehalte sehenswert ist.

Auch ziemlich schwerfällig und formal mehrheitlich eher langweilig ist «Were the World Mine» ausgefallen. Ein schwuler Junge Timothy (Tanner Cohen) wird an einer Schule für Knaben ausgegrenzt. Da erhält er die Gelegenheit in der Schulaufführung den Elf Puck in «A Midsummer Night’s Dream» zu spielen. Bei den Proben gelingt es ihm, das Zaubermittel aus dem Stück zu brauen, das die Schlafenden sich in die nächste Person verlieben lässt, die sie erblicken. In der Knabenschule sind das natürlich alles Männer.

Wie in «Hedwig and the Angry Inch» wird die Handlung von «Were the World Mine» immer wieder durch Lieder vorangetrieben. Die Inszenierung erreicht jedoch selten eine ähnliche Dynamik. Zumindest verfügt Tanner Cohen über eine wunderbare Stimme. Die Darstellung von ihm und den anderen Hauptfiguren ist jedoch meist ein wenig hölzern. Belastet wird die Stimmung auch hier von einer ziemlich schwermütigen Auseindersetzung mit der Homosexualität. Es nützt zwar sicher nichts, die Augen vor Problemen zu verschliessen, aber so niederschlagend muss doch die Lage auch nicht gezeichnet werden. Vor allem nicht in einem Musical.

Äusserst ungezwungen ist hingegen die Herangehensweise an das Thema der persönlichen Entwicklung und Entfaltung in der Komödie «Ready? OK!». Besonders die Hauptfigur, der 10-jährige Joshua, der gerne Cheerleader sein möchte, strahlt unzerstörbaren Optimismus aus. Dabei hat auch er es nicht gerade einfach, wächst bei seiner arbeitenden Mutter auf und besucht eine katholische Schule. Deren Leiter haben natürlich wenig Freude an einem Knaben, der mit Pompoms durch die Gegend tanzen möchte.

Der Trailer zu diesem Film hat mich eher abgeschreckt, da die Szenen auch eher steif wirken. Angesehen habe ich in mir dann aber trotzdem, weil Michael Emerson, der in «Lost» den Anführer der Anderen spielt, hier in einer wirklich anderen Rolle zu sehen ist: als schwuler Nachbar. Nicht nur er, auch die übrigen Darsteller glänzen im Regiedebüt von James Vasquez, der dadurch natürlich auch die üblichen Mängel eines geringen Budgets übertünchen konnte. Aber auch sein Drehbuch ist mit einigen Abstrichen gelungen und vor allem immer wieder herzhaft witzig.

Bewertung «Were the World Mine»: 3 Sterne
Bewertung «To Each Her Own»: 1 Stern
Bewertung «Ready? OK!»:
4 Sterne

Herausragend am Samstag war vor allem «The Universe of Keith Haring», ein Dokumentarfilm über den an Aids erkrankten (Hip-)Pop-Künstler. Regisseurin Christina Clausen baute zahlreiche Filmaufnahmen von Haring in ihr Werk ein und unterhielt sich mit der Familie und Freunden des bis an sein Lebensende von Tatendrang und Schaffenskraft sprühenden Künstlers. Die Lebensfreude von Haring strömt auch regelrecht durch jedes Bild des Dokumentarfilms und wirkt ansteckend. Gleichzeitig ist der intime Film auch aufwühlend und berührend.

Die beiden übrigen am Samstag gesehenen Filme: Einerseits «The Mysteries of Pittsburgh», eine prominent besetzte Coming-of-Age-Story über den Sohn eines Kriminellen (Nick Nolte). Den Sommer, bevor er sich ins Berufsleben stürzt, möchte er noch einmal unbeschwert verbringen. Dabei begegnet ihm das wilde Pärchen Jane (Sienna Miller) und Cleveland (Peter Sarsgaard). Ganz nett anzusehen, aber am Ende entgleitet Regisseur und Drehbuchautor Rawson Marshall Thurber die Geschichte ein wenig – was aber möglicherweise auch an der Vorlage von Michael Chabon liegt.

Andererseits stand noch eine weitere Literaturverfilmung an. In «Affinity», basierend auf den Roman von Sarah Waters, wird eine ordentliche Portion Spiritismus serviert. Im viktorianischen England widmet sich die aus reichem Haus stammende Margaret Prior (Anna Madeley) wohltätiger Arbeit, indem sie Gefangene im Frauengefängnis Millbank besucht. Dort lernt sie die Geisterbeschwörerin Selina Dawes (Zoe Tapper) kennen, die behauptet, unschuldig verurteilt zu sein. Kameraarbeit und Beleuchtung erzeugen eine magische Stimmung, und die Darstellerinnen sind solide.

Bewertung «The Universe of Keith Haring»: 6 Sterne
Bewertung «The Mysteries of Pittsburgh»: 4 Sterne
Bewertung «Affinity»:
4 Sterne

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