Die Invasion der Cineasten

Wo sind die Cineasten?

Nachdem sich David im Januar als Cineast bezeichnet hat, habe ich einen Eintrag über die Verwässerung dieses Begriffs angekündigt. Überall tauchen nämlich derzeit selbsternannte Cineasten auf. Doch was sind eigentlich überhaupt Cineasten? Es reicht sicherlich nicht aus, sich gerne jede Woche zwei bis drei Filme anzusehen. Geht es nach dem Sprachverständnis der Franzosen, reicht das Betrachten von Filmen sowieso nicht aus.

Leicht erkennbar stammt der Begriff ursprünglich aus Frankreich. Dort bezeichnet er ausschliesslich eine Person «qui exerce une activité créatrice et technique ayant rapport au cinéma» («Dictionnaires Le Robert», 1991). Eine Person, die Filme macht. Das Wort sei gemäss Wikipedia 1920 von Filmemacher Louis Delluc erfunden worden. Wie kommt nun das Wort in den deutschen Sprachgebrauch, wo französische Wörter doch lieber eingedeutscht werden? Da müsste es doch nicht Cineast, sondern Kineast heissen.

Der Cineast in Deutschlang hat natürlich den Umweg über die USA genommen. Dort erscheint seit 1967 sogar eine Zeitschrift unter dem Titel «Cineast», die führende Zeitschrift «on the art and politics of the cinema». Im Merriam-Webster Online Dictionary wird der seit 1926 existierende Begriff «Cineaste» als «a devotee of motion pictures» definiert. Schlüsselwort ist eindeutig «devotion», die Hingabe. Irgendwie fand wohl vom Französischen ins Amerikanische eine leichte Bedeutungsverschiebung statt. Vielleicht entstand die Verwechslung auch in den 50er-Jahren, als die cinephilen Redaktoren der «Cahiers du cinéma» plötzlich zu Cineasten im eigentlichen Sinne wurden.

Das wurde dann in Deutschland offensichtlich einfach als Filmliebhaber übersetzt. Im «Duden» (19. Auflage) ist der Cineast ein «Filmfachmann; Filmfan». Nun ja, die Redaktoren des «Duden» mögen Experten für Orthographie sein, Sachverständige für Film sind sie bestimmt nicht. Trotzdem versteht sich nun jeder deutschsprachige Kinogänger und DVD-Konsument plötzlich als Cineast. Die Filmliebe eines Cineasten reicht allerdings tiefer als es der durchschnittliche Filmverbraucher auch nur ansatzweise nachvollziehen kann.

Auf der Wikipedia wird ein Cineast dann auch viel treffender als Mensch definiert, «der sich, im Gegensatz zu den reinen Filmkonsumenten, Kinogängern und Video-Liebhabern, auch für den Filmdiskurs (z.B. Filmkultur, künstlerische Aspekte der Filmgestaltung, Geschichte des Films etc.) und die Filmtheorie interessiert, also nicht nur die pure Unterhaltung sucht.» Das ist schon einmal ein wenig einschränkender und mehr nach meinem Empfinden. Wenn sich nämlich jeder Besitzer eines DVD-Spielers als Cineast bezeichnet, verliert der Begriff jegliche Bedeutung. Daher füge ich 10 Punkte zur Definition eines Cineasten an:

  1. Cineasten betrachten Film als Kunst und nicht als Kommerz. Eine einfache Feststellung, die aber weitreichende Auswirkungen hat.
  2. Cineasten sehen sich keine synchronisierten Werke an. Sprache und Stimme sind künstlerische Instrumente der Schauspieler, die Dialoge enthalten wesentliche Merkmale der Kultur, und die unverfälschte Tonspur bildet ein integrales Ausdrucksmittel.
  3. Cineasten können locker weit über 100 Regisseure und ihre wichtigsten Werke aufzählen. Von Herbert Achternbusch, Woody Allen und Theodoros Angelopoulos über Hou Hsiao-hsien, Abbas Kiarostami, Stanley Kubrick bis hin zu Wong Kar-Wai, Zhang Yimou und Terry Zwigoff.
  4. Cineasten zeichnen sich durch einen breiten Filmgeschmack aus und sehen sich nicht nur Filme aus wenigen Genres an. Action- oder Horrorfilme stehen wenn überhaupt eher selten auf dem Speiseplan. Dafür werden Stummfilme aus den 20ern und früher, klassische Hollywood-Filme wie Gangsterfilm, Screwball-Komödie oder Film noir ebenso wie Neorealistisches mit Genuss verzehrt.
  5. Cineasten verabscheuen die industriellen Werke aus Hollywood. Michael Bay ist für Cineasten der Teufel. Mehr gibt es dazu wirklich nicht zu sagen.
  6. Cineasten lesen Filmzeitschriften. Aber sicher nicht «Cinema» oder «Film Total», sondern vielmehr «Schnitt», «Cahiers du cinéma», «Sight & Sound», «Film Comment» oder natürlich «Cineaste». Ergänzt wird dieser Lesestoff durch Fachpublikationen.
  7. Cineasten besuchen nicht einfach Festivals. Sie pilgern an Festivals. Das Kino ist nämlich sogar noch mehr als einfach eine Leidenschaft, eher schon eine Passion, eine Religion. Vermutlich können sich nicht alle Cineasten regelmässige Festivalbesuche leisten, aber ein bis zwei Wochen pro Jahr sollten schon investiert werden.
  8. Cineasten haben sich durch ihre Begeisterung ein grosses Wissen über die Terminologie des Films angeeignet. Er weiss sofort, was eine amerikanische Einstellung ist, wozu eine Cinémathèque dient, und Begriffe wie «Animatik», «Cadrage», «Storyboard» oder «Virage» sind keine Fremdwörter. Ein Hilfsmittel dazu ist übrigens das «Lexikon der Filmbegriffe» des Bender Verlags.
  9. Cineasten sehen sich nicht nur leidenschaftlich Filme an. Sie diskutieren auch über Filme. Sie streiten leidenschaftlich, verteidigen mit Herzblut ihre Favoriten und fühlen sich persönlich angegriffen, wenn jemand nicht ihrer Meinung ist. Sie sind in dieser Hinsicht ein wenig Mimosen.
  10. Zu guter Letzt hat ein wahrer Cineast ganz dem Ursprung des Begriffs auch schon mindestens ein wenig eigene Versuche im Bereich des Filmemachens gewagt. Immer nur zuschauen ist schliesslich viel zu passiv und langweilig.

Regelmässige Leser von diesem Blog werden nun vermutlich daran zweifeln, dass ich selber ein Cineast bin. Recht haben sie. Da ich aber ein Purist bin, widerstrebt mir die unsorgfältige, inflationäre Verwendung des Begriffs «Cineast». Ich bewundere Cineasten, weil sie für die Bewahrung des Filmerbes und intelligente Auseinandersetzungen über Filme unersetzbar sind und ihre Begeisterung nur in seltenen Fällen kontraproduktiv, weil abschreckend wirkt. Sie sollen diesen Titel stolz tragen dürfen, um sich positiv von der Masse abzugrenzen.

Ich bin sicher kein Cineast, würde mich also auch nie als solcher bezeichnen. Da ich gerade einmal sechs der von mir formulierten Anforderungen ganz oder zumindest teilweise erfülle, bin ich höchstens Teil-Cineast. Ich bin vielmehr ein Filmsüchtiger mit variierenden Ansprüchen an Filmkunst. Die Unterscheidung zwischen Kunst und Kommerz ist mir aber sowieso zuwider. Wenn mir ein Film gefällt, dann gefällt er mir. Mir spielt es dabei keine Rolle, ob es sich um «The Da Vinci Code», «Trois Couleurs: Bleu» oder ein Experimentalfilm von Stan Brakhage handelt.

11 comments

  1. Du darfst dich gerne auch als Filmsüchtiger bezeichnen. Die genaue Ausprägung deiner Beziehung zum Film kenne ich halt nicht. 🙂

  2. Ein toller Beitrag! Vor allem die 10 Punkte finde ich interessant. Wenn ich mich mal danach abklopfe, kann ich eigentlich keinen davon wirklich richtig abdecken. Punkt 1 kommt vielleicht am besten hin, aber bei allen anderen muss ich entweder komplett passen (5,6,7 und 10) oder ich erfülle sie nur ansatzweise. Aber ich denke auch, dass ich mit meiner Liebe zu Filmen und dem Spaß, den ich dabei habe, Filme zu schauen, schon sehr glücklich bin. Die Intention, ein Cineast zu werden, habe ich nicht – dazu sind mir andere Dinge wie Musik viel zu wichtig. Und als wahrer Cineast hat man sicher niocht mehr viel Zeit für andere Passionen nebenbei 😉

  3. Stimme da zu, sehr interessanter, aber auch augenzwinkernder Beitrag! Highlight ist sind natürlich die, ich nenn sie mal, 10 Gebote des Cineasten. 😉

    Wenn ich da eins-zu-eins durchgehe muss ich eingestehen, dass ich streng gesehen wohl auch kein Cineast bin, da ich Punkt 5 und 7 nicht erfülle, und Punkt 3 nur an der Grenze. Naja, aber was ist nicht kann ja noch was werden.

    Wie sieht es aus, ist’s erlaubt die Liste weiter zu verbreiten?

  4. Selbstverständlich darf die Liste unter Quellenangabe weiter verbreitet werden. Wer stellt schon Gebote auf und verbietet danach, dass sie unters Volk verteilt werden. 🙂

  5. Immerhin, 5 Punkte erfülle ich vollständig, 3 weitere ansatzweise.
    Ganz zustimmen kann ich den “10 Geboten” zwar nicht (Ich kann hier allerdings, genau wie Jonas, ein Augenzwinkern in der Aufzählung erkennen – ist dieses denn auch vorhanden?), aber sie weisen in die richtige Richtung.
    Ich finde es bereits merkwürdig, wenn sich jemand als cinephil bezeichnet, und dann nur Filme gesehen hat, die nach seiner Geburt produziert wurden. Nur wird sich daran so schnell wohl nichts ändern …

  6. Besten Dank für diese Aufklärung 🙂 Ich würde aber schon jemanden, der mehr als die Hälfte der “10 Gebote” (naja, 10 Merkmale wären treffender) erfüllt, ein Cineast ist.

    Eine Frage zum Synchronisationspunkt: das hieße ja für die Mehrheit, dass sie nur englischsprachige Filme gucken, oder? Ok, du als Schweizer hast einen Vorteil, weil du wahrscheinlich gut französisch oder italienisch sprichst. (Tust du?)

  7. Ich finde Definition von Cineast und insbesondere die zehn Punkte sehr interessant. Sie ist mir aber ingesamt zu konservativ und radikal. Es ist ein Ansatz wie man Cineast vielleicht in den 60er Jahren definiert hätte. Du musst aber bedenken, dass sich ein Begriff wie Cineast auch mit der wandelt und entwickelt

    Die strikte Trennung zwischen Kunst und Kommerz lässt sich spätestens seit der, man könnte vielleicht sagen “postmodernen Wende” des Kinos nicht mehr aufrechterhalten. Regisseure wie Quentin Tarantino, den Coen Brothers, David Lynch oder Lars von Trier haben sich immer geschickt zwischen Kunst und Kommerz bewegt. Und die genannten Herren sind ja wohl Regisseure, die auch der heutige Cineast schätzen wird.

    Ein zeitgenössischer Cineast wird die erwähnte Trennung zwischen Kunst und Kommerz also nicht mehr strikte aufrechterhalten, obwohl er natürlich den Film immer noch in erster Linie als Kunst und erst in zweiter oder dritter Linie als Kommerz betrachten wird.

    Ein Cineast kann also durchaus einen Michael Bay Film persönlich mögen, sogar mehr mögen als gewisse sogenannte “Meisterwerke der Filmgeschichte”, aber würde sich niemals anmassen in einer Diskussion über Science Fiction Filme beispielsweise Michael Bays “The Island” mit Filmen wie Andrei Tarkovskis “Solaris” oder Kubricks “2001: A Space Odyssey” gleichzusetzen. Selbst, wenn ihm “The Island” eigentlich besser gefällt, wüsste er, dass die beiden letzteren Filme qualitativ und mit Blick auf die Geschichte des Films um Lichtjahre bedeutender bzw. höher einzuschätzen sind.

    Drum möchte ich Deine Liste mit dem kontroversen Punkt 11 ergänzen:

    11. Ein Cineast von heute unterscheidet zwischen dem persönlichen Geschmack, der persönlichen Vorliebe und der (inhaltlich, formalen, historischen) Qualität eines Filmes.

    und 12. Ein Cineast schaut sich Filme gerne mehrmals an.

  8. Betreffend der Synchronisation: In Zürich kommen noch fast alle Filme mit mindestens einer untertitelten Kopie ins Kino. Untertitel haben zwar auch ihre Nachteile, die aber dem Verbrechen einer Synchronisation immer vorzuziehen sind. Französisch spreche ich ein wenig, Italienisch verstehe ich teilweise. Für die Betrachtung eines Films reicht es selten aus.

    Wenn die Liste nicht radikal wäre, gäbe es keine Reaktionen. Das wäre auch langweilig. Ich kann mich zudem schlecht als Purist bezeichnen und dann nicht eine zumindest leicht konservative Liste liefern. Ausserdem verliert ein Begriff seine Bedeutung, wenn er nicht klar definiert ist.

    Ich erwähne ja, dass ich die strikte Trennung von Kunst und Kommerz für problematisch halte. Aber wie du auch zugibst, betrachten Cineasten «natürlich den Film immer noch in erster Linie als Kunst». Zu meiner Formulierung ist das nur ein Unterschied im Tonfall. Die Besprechung von «The Island» folgt noch diese Woche…

    Die Liste kann selbstverständlich beliebig ergänzt werden, wird dadurch aber nur noch radikaler, da Ergänzungen weiter einschränken. Kaum hatte ich übrigens 10 Punkte aufgestellt, waren es auch schon 11. So habe ich die Komponenten von Vielfalt und Zeit in Punkt 4 zusammengefasst.

  9. Die Unterscheidung von Kommerz & Kunst, wie es beschrieben, gefällt mir. Denn sogar Goethe hat schon gesagt, dass ein Merkmal von Kunst die Popularisierung ist oder anders gesagt:,,Kunst ist erst dann Kunst wenn es einen Empfänger gibt der es wahr-, aufnehmen und genießen kann. Das ist Meiner Meinung nach richtig, Kunst ist Genuß und da ein Künstler nicht sein Werk genießt sondern einzig und allein die Tat muss es einen Adressat geben der genießt.

Leave a comment