Letzte Woche hat schon «Effi Briest» dafür gesorgt, dass ich mich mit der literarischen Vorlage eines Films auseinander gesetzt habe. Diese Woche hat nun «The Reader» die gleiche Reaktion ausgelöst. Der Grund ist ein ganz einfacher: Manche Szenen im Drama von Stephen Daldry funktionieren einwandfrei, sind teilweise sogar berührend, aber in zahlreichen Momenten scheitert die Adaption. Liegt das nun am Roman von Bernhard Schlink oder an den Filmemachern?
Wieder einmal stellt sich zuerst die Frage, ob ich voraussetzen kann, dass der Leser mit der Handlung und vor allem dem entscheidenden Kunstgriff in «Der Vorleser» vertraut ist. Ein Leser, der bis zu diesem Satz gelangt ist, dürfte am Film interessiert sein und zumindest wissen, dass der Holocaust ein zentrales Element der Geschichte ist. Die Handlung setzt im Jahr 1958 ein. Der 15-jährige Michael Berg (David Kross) muss sich in einem Hauseingang übergeben. Eine Frau (Kate Winslet) kümmert sich um den fiebrigen Knaben und begleitet ihn nach Hause.
Michael ist an Scharlach (im Buch an Gelbfieber) erkrankt. Nach einem halben Jahr ist die Krankheit auskuriert, und der Junge bedankt sich bei der Frau. Die erotische Spannung in der Wohnung frisst sich in die Gedanken von Michael, der nach einer Woche wieder zurückkehrt. Damit beginnt eine «Affäre» zwischen dem Schüler und der reifen Hanna, die seine Mutter sein könnte. Sie schlafen beinahe jeden Tag miteinander. Nach einer Weile wird das Ritual geändert: Vor dem Sex muss Michael aus Büchern vorlesen.
Der Sommer vergeht wie in einem Traum. Doch eines Tages ist Hanna verschwunden. Michael überwindet die Trennung nur mühsam. Wirklich betäubt wird er dann allerdings Jahre später, als er im Rahmen eines Seminars seines Studiums der Rechtswissenschaft einen Prozess besucht. Hanna sitzt auf der Anklagebank. Sie soll im Zweiten Weltkrieg als Wächterin der SS bei der Selektion von Todeskandidatinnen beteiligt gewesen sein und zudem tatenlos zugesehen haben, wie 300 Frauen beim Brand einer Kirche umgekommen sind.
«Der Vorleser» von Schlink habe ich vor etwa zehn Jahren einmal gelesen. Ich konnte mich nur noch daran erinnern, dass mich die Geschichte berührte. Das Thema ist die Aufarbeitung der deutschen Schuldfrage. Durch die Verknüpfung mit dem jungen Michael wird der Bezug zur jüngeren Generation hergestellt, die nicht an den Gräueln der Nazis beteiligt waren, sich nun aber trotzdem damit auseinander setzen müssen. Die Liebesbeziehung zu einer Anklagten lässt Michael zwischen Schuld und Scham hin- und herschwanken.
Das Hauptproblem an der Erzählung ist der Kunstgriff, der eigentliche Grund, wieso Hanna sich von Michael aus Büchern vorlesen lässt. Dieses Element relativiert die Schuldfrage und bricht sie auf eine viel intimere Ebene hinunter. Es dient sozusagen als Entschuldigung für die Taten von Hanna, die sich durch ihre Entscheidungen unwillkürlich immer tiefer in ihr Unglück steuert. Daran zerbricht aber nicht nur sie selbst, sondern auch Michael trägt die Last mit: «Alle Fragen, Ängste, Anklagen und Selbstvorwürfe, alles Entsetzen und aller Schmerz, die während des Prozesses aufgebrochen waren, waren wieder da und blieben auch da.»
Schlink schildert die Geschichte aus der Ich-Perspektive. Michael durchleuchtet aus der Gegenwart sehr reflektiv seine Erfahrungen. Wie ging nun Drehbuchautor David Hare mit dieser verinnerlichten Erzählform um? Er verschachtelt die Handlung noch stärker. Doch den Mut für eine Erzählstimme hat er nicht aufgebracht. So müssen die Gedanken von Michael auf andere Weise zum Ausdruck gebracht werden. Ein Lehrer referiert über Geheimnisse als bestimmendes Element in der westlichen Literatur.
Später tauscht sich Michael mit seinem Professor aus, der im Buch nur am Rand vorkommt, im Film aber immerhin Bruno Ganz zu Auftritten verhilft. Um das geheime Seelenleben von Michael noch ein wenig stärker nach aussen zu kehren, wird er ausserdem mit seiner Tochter konfrontiert, die bei Schlink nur erwähnt wird. Die Filmemacher erachten diese Lösung bestimmt als sehr elegant, doch so aufschlussreich und einnehmed wie der Text von Schlink ist sie natürlich nicht.
Das liegt auch daran, dass sich die Gespaltenheit in der Empfindung von Michael im Spiel von David Kross nicht wirklich ablesen lässt. Wie ihm das «Nebeneinander von Kaltschnäuzigkeit und Empfindsamkeit» in seiner Person suspekt bleibt oder wie er über «eine klägliche Wahrheit und eine klägliche Gerechtigkeit» sinniert, bleibt dem Leser vorenthalten. So entfaltet der Film ohne Kenntnis der Vorlage nicht seine volle Wirkung.
Eher irritierend sind zudem die diversen Personenwechsel. Im Fall von Michael, der von 15 auf über 50 Jahre altert ist das fast nicht zu vermeiden. Wie er aber innerhalb von 10 Jahren aus Kross plötzlich zu Ralph Fiennes wird, ist nicht wirklich glaubwürdig. Noch viel weniger nachvollziehbar ist der Wechsel von Alexandra Maria Lara zu Lena Olin. Einzig Hauptdarstellerin Winslet darf ununterbrochen altern.
Was bleibt übrig? Ein pubertärer Bubentraum von der Einführung ins Kamasutra durch die verführerische Winslet. Die sinnliche und leicht obszöne Anleitung zur Liebeskunst wird der jugendlichen Lüsternheit ganz bestimmt gerecht und für einmal trifft der Ausdruck von «literarischen Ergüssen» in vieler Hinsicht zu. Damit das Publikum des Films vor lauter Nacktheit auf das eigentliche Thema aufmerksam wird, wird dann rechtzeitig eine Kopie von «The Question of German Guilt» von Karl Jaspers ins Bild gehalten. Schwerfälliger geht es nicht.
«The Reader» enthält einige rührende Momente, doch die Gedanken und Überlegungen von Michael fehlen wie das Salz in der Suppe. So ist die Geschichte fast noch niederschmetternder, zumal sich Fiennes die ganze Zeit mit einem wahrlich gequälten Blick durch die Szenen kämpfen muss. Wer die Vorlage nicht gelesen hat und nicht zu viel über die Ungereimtheiten der Emotionen und Alterungen nachdenkt, wird sich zumindest an den üppigen Aufnahmen der Kameramänner Chris Menges und Roger Deakins erfreuen können.
Fazit: «The Reader» ist eine gescheiterte Literaturverfilmung, aber ein passables Drama über Schuld und Scham der Nachkriegsgeneration.
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