Darf’s es bitzeli meh si?
Zumindest am Chalandamarz zählt nur die Grösse. Den Umzug des traditionellen Unterengadiner Frühlingsfests führt nämlich der Knabe an, der die grösste Kuhglocke trägt. Weltberühmt wurde der Brauch durch die Geschichte «Schellen-Ursli» von Autorin Selina Chönz und Illustrator Alois Carigiet, die nun sich etwas gar weit von der Vorlage entfernend von Xavier Koller verfilmt wurde.
Chönz und Carigiet erzählen vom kleinen Ursli, der für den Chalandamarz nur noch eine kleine Kälberschelle erhält und deshalb von den anderen Buben im Dorf als «Schellen-Ursli» ausgelacht wird. Doch das lässt der wagemutige Junge nicht auf sich sitzen. Er erinnert sich an eine riesige Glocke, die hoch über dem Bergdorf in einem Maiensäss hängt. Kurzentschlossen macht er sich auf den Weg, lässt sich vom feuchten Schnee nicht aufhalten und führt am nächsten Tag triumphierend den Umzug der Kinder an.
So erzählt es das Bilderbuch, das mittlerweile neben «Heidi» zur populärsten Kindergeschichte der Schweiz zählt. Doch während der Roman von Johanna Spyri bereits unzählige Male für Kino und Fernsehen bearbeitet wurde, gab es vom Bilderbuch über den Schellen-Ursli bisher nur einen Kurzfilm von Ulrich Kündig (CH 1964). Der einfache Grund dafür: die Handlung reicht im Grunde nicht für einen abendfüllenden Film aus. Trotzdem wurde nun «nach dem gleichnamigen Buch-Klassiker» ein 100-minütiger Kinofilm realisiert.
Regisseur Xavier Koller, der zusammen mit Stefan Jäger für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, hat die Reise zum Maiensäss und zurück mit einer ausführlichen Rahmenhandlung ausgestattet. Darin geht es um den Käse, der vom Vater von Uorsin (im Film wird die Engadiner Variante des Namens verwendet) und anderen Sennen über den Sommer produziert wurde und dann aber beim Alpabzug in eine Schlucht stürzt. Der diebische Gemeindepräsident (Leonardo Nigro) fischt ihn aus dem Bach und versteckt ihn heimlich bei sich im Keller. In der Folge bemüht sich Uorsin (Jonas Hartmann), das Geheimnis aufzudecken. Ausserdem geht es noch um Uorsins Freundschaft zu einem gleichaltrigen Mädchen (Julia Jeker) und um seine Tierliebe: zum einen zu einer Ziege, zum anderen zu einem wilden Wolf.
Die Handlung des Kinofilms «Schellen-Ursli» entfernt sich also ziemlich weit von der Vorlage. Vom Charme und der reizenden Naivität ist nicht mehr viel vorhanden. Stattdessen pendelt die Erzählung zwischen finsterem Sozialdrama mit hungernden Bauern und kitschiger Bergromantik mit rettendem Wolf und dem seine Geissen hütenden Uorsin hin und her. Da wähnt man sich manchmal fast in einer weiteren Verfilmung von «Heidi». Immerhin haben die Filmemacher viel Wert auf eine möglichst stimmungsvolle Ausstattung gelegt, die stark an die Illustrationen von Carigiet angelehnt ist. Auch die Sprache mit den vielen Einsprengseln rätoromanischer Sprache trägt zu einer authentisch wirkenden Lokalisierung bei.
Doch all diese Vorzüge täuschen nicht darüber hinweg, dass die gradlinige Geschichte aus der Vorlage von der Rahmenhandlung regelrecht erdrückt wird. Fast wie von der Lawine, die gegen Ende des Films auf das Dorf herunter donnert. Der Vorwurf der mangelnden Werktreue mag banal, gar ein wenig kleinlich klingen. Schliesslich musste die Handlung ein wenig ausgeweitet werden. Wie sich das bewerkstelligen lässt, ohne dass die Vorlage kaum mehr erkannt wird, hat Spike Jonze mit seiner fantasievollen Umsetzung von «Where the Wild Things Are» gezeigt. Er hat sich zusammen mit Dave Eggers eine Handlung um das Hauptmotiv des Bilderbuchs von Maurice Sendak erdacht. In «Schellen-Ursli» ist hingegen der Chalandamarz und die Suche einer möglichst grossen Glocke nur noch Nebensache.
Fazit: Die Filmemacher von «Schellen-Ursli» haben sich zwar von einem Bilderbuch inspirieren lassen. Die Vorlage wurde allerdings so stark marginalisiert, dass sie leider kaum noch zu erkennen ist.
Bewertung:
(Bilder: © Frenetic Films)
Kurzfilm «Schellen-Ursli» von Ulrich Kündig: