Da ragen sie in die Höhe. Wogen hin und her wie im Takt. Warten auf den idealen Zeitpunkt der Selbstinszenierung. Ein Selfie-Stick neben dem anderen in einer Häuserschlucht. Das Selfie, das meist mit einem Mobiltelefon aufgenommene Selbstporträt, bildet das Motiv des entsprechend betitelten Kurzfilms Selfies von Claudius Gentinetta. Der Animationsfilmer entführt in eine berauschende Bilderwelt, die er mit einigen überraschenden Momenten belebt.
Den Auftakt bilden Füsse am Wasser. Schnell wird das Mobiltelefon gezückt, um den idyllischen Moment der Ferien am Meer festzuhalten. Der Sprung ins kühlende Nass wird ebenso dokumentiert wie der darauf folgende Angriff durch einen Hai. Die Gefahr wird gleich wieder vom Bildschirm weggewischt. Dann tauchen die sich fotografierenden Menschen wieder an der Oberfläche auf, hinter ihnen schaukeln Flüchtlingsboote ins Bild. Die Bilderflut folgt den um die Wette strahlenden Menschen ins Flüchtlingslager und von dort – wieder mit einem Wisch – direkt auf die Toilette. Party, roter Teppich im Blitzlichtgewitter, jubelnde Menschenmassen – wieder ein Sprung. Das Selfie dokumentiert alles: Sex, die Geburt eines Babies, das bereits mit Selfie-Stick auf die Welt kommt, kranke und sterbende Menschen im Spital. Mit einer Fingerbewegung wird das nächste Selbstporträt angezeigt.
Wenn Claudius Gentinetta seinem Stil treu bleibt, dann sieht keines seiner Werke aus wie das andere. Ganz ohne Farbe kam Gentinetta in seinen beiden letzten Filmen aus: weisse Linien und Schraffierungen auf schwarzem Grund in «Schlaf» (2010), schwarzweisse Zeichnungen in «Islander’s Rest» (2015). In «Selfies» dominiert nun eine dem Motiv entsprechend übertriebene Farbigkeit. In rasanter Abfolge gehen die einzelnen Bilder ineinander über und die grellen Farben flackern ähnlich wie die Pixel auf den Handyfotos.
So wie die Menschen mit ihren Selbstporträts versuchen, den verschönerten Moment der Perfektion festzuhalten, zeichnet Gentinetta in Selfies das Abbild dieses unaufhaltsamen Phänomens der Gegenwart. Die Bilder erzählen eine Geschichte von Selbstsucht, Abenteuerwut, Glanz auf dem roten Teppich, Verzweiflung auf der Toilette und vom einsamen Tod vor der Kamera. Gentinetta schreibt zu seinem Film, dass er die «Porträtierungswut» nicht bewertet. Dennoch lässt die Montage und die Überspitzung der Szenen ein klares Urteil über diesen Trend zu. Atemberaubend und überwältigend ist die Bilderlawine allemal – und erst eine mehrfache Betrachtung lässt alle Feinheiten der virtuosen Inszenierung erkennen.
Bewertung:
(Bilder: © 2018 gentinettafilm)