«22:47 Linie 34» von Michael Karrer

Spilsch de Superman vor de Fründin… das isch los, oder was?

Spät abends in einem Bus. Fünf Jugendliche stehen ganz hinten, plaudern miteinander. Zwischendurch wird es lauter. Bei der nächsten Haltestelle steigt ein merklich alkoholisierter Mann mit Bierdose in der Hand in den Bus, quetscht sich zu den Teenies. Als er sich wohlwollend über ihre Musik äussert, fangen sie an, ihn zu filmen. Eine junge Frau mischt sich zuerst ein, dann auch ihr Partner. Die Stimmung wird gereizter. Auf eine zusätzliche Provokation der Jugendlichen reagiert ein weiterer Fahrgast. Erst als der Betrunkene sich übergeben muss, entspannt sich die Lage wieder.

Der Kurzfilm «22:47 Linie 34» von Michael Karrer versetzt das Publikum in eine allzu vertraute Situation. Im öffentlichen Raum können schon geringste Überschreitungen von sozialen Normen zu Konflikten mit Gewaltpotenzial führen. Entsprechend aufgeladen wird schnell auch einmal die Stimmung im Bus. Das jugendliche Imponiergehabe trifft auf Ordnungsliebende mit eingeschränkter Toleranz. Auffallend an «22:47 Linie 34» ist jedoch weniger der Inhalt, als vielmehr die filmische Umsetzung: die ganze Handlung wird ohne einen einzigen Schnitt gezeigt. Die Kamera ist auf einer Position fixiert, Veränderungen an der Einstellung gibt es lediglich durch die Bewegung des Gelenkbusses und durch leichte, fast unmerkliche Kameraschwenks.

Die Inszenierung von Michael Karrer bewegt sich irgendwo zwischen genial und banal. Streng genommen handelt es sich um eine Plansequenz, sofern man die Definition anwendet, wonach es sich dabei um eine Sequenz handelt, die in einer einzigen Einstellung gedreht ist. Dabei stellt man sich unter diesem Begriff in der Regel berauschende Kamerafahrten wie in «Touch of Evil» (US 1958) von Orson Welles oder in «Goodfellas» (US 1990) von Martin Scorsese vor. Davon ist die statische Kamera in «22:47 Linie 34» jedoch weit entfernt. Vielmehr versetzt Karrer das Publikum durch diesen statischen, voyeuristischen Blick direkt an den Rand des Geschehens. Je nach Perspektive vermittelt uns die Inszenierung verschiedene Gefühlswelten: wir feiern mit den Jugendlichen, leiden mit dem Betrunkenen oder ärgern uns über die Ruhestörung.

Es fühlt sich so an, als ob sich Karrer mit seiner Master-Arbeit an der Zürcher Hochschule der Künste den üblichen Ansprüchen an ein filmisches Werk verweigern wollte. Sogar der Titel repräsentiert urbane Banalität, lediglich Uhrzeit und Buslinie. Aber obschon die Inszenierung und der Titel wenig Spannung versprechen, so kann man sich der Faszination der Handlung nicht entziehen. «22:47 Linie 34» ist eine ebenso witzige wie beklemmende Sozialstudie. «Lebensnah und mit scharf beobachteten Details» urteilte dann auch die Jury der Kurzfilmtage Winterthur und kürte das Werk zum besten Schweizer Kurzfilm.

Bewertung: 5 Sterne

(Bilder: © 2019 Zürcher Hochschule der Künste ZHdK)

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