Locarno 06: «La vraie vie est ailleurs» von Choffat

Jasna Kohoutova und Dorian Rossel in «La vraie vie est ailleurs»

[Erschienen am 11. August 2006, 18.37] 2003 präsentierte Frédéric Choffat am Filmfestival Locarno seinen Kurzfilm «Genève–Marseille», in dem eine Frau und ein Mann sich im Zug von Genf nach Marseille näherkommen. Drei Jahre später hat der Filmemacher das Konzept zum Spielfilm «La vraie vie est ailleurs» ausgearbeitet, der in Locarno im Wettbewerb der «Cinéastes du présent» seine Welturaufführung feiern durfte.

Ausgehend von der Frage, ob das wirkliche Leben woanders stattfinde, begleitet Choffat drei Menschen, die in Genf in den Zug steigen und auf der Fahrt durch die Nacht dem Leben begegnen. Abwechselnd werden die Erlebnisse der drei Zufallspaare weitererzählt. Ein junger Mann (Dorian Rossel) möchte nach Berlin zu seiner Frau und dem neugeborenen Kind reisen, verpasst aber in Dortmund den Anschlusszug. Im verlassenen Bahnhofsgebäude trifft er auf eine hemmungslose Pariserin (Jasna Kohoutova), die sein Leben kräftig durcheinanderwirbelt.

Gleichzeitig fährt eine Forscherin (Sandra Amodio) nach Marseille, wo sie einen für ihre Karriere entscheidenden Vortrag halten soll. Nachdem sie für einen Mann (Vincent Bonillo) im Zug die Fahrkarte bezahlt, bringt sie ihn nicht mehr los. Im dritten Erzählstrang begibt sich eine junge Italienerin (Antonella Vitali), die in Genf aufgewachsen ist, mit ihrer Katze auf eine Reise nach Neapel, wo sie fortan leben möchte. Ein aufdringlicher Zugbegleiter (Roberto Molo) bringt ihre Vorstellungen von der Welt aber ziemlich durcheinander.

Antonella Vitali in «La vraie vie est ailleurs»

Wie unterschiedlich das Leben aus verschiedenen Blickwinkeln beurteilt werden kann, kommt in der letzten Episode am deutlichsten zum Ausdruck. Als die Protagonistin sich über die Einschränkungen im «Paradies Schweiz» beschwert, erklärt der Zugbegleiter nur, dass er das Leben in einem Gefängnis dem Leben in einem Mülleimer vorziehe.

Choffat entschloss sich, die Geschichte ohne fertiges Drehbuch, mit einer minimalen Equipe zu drehen, nur mit ein paar Ideen im Kopf und der Erfahrung der Schauspieler, «um eine offenere Form auszuprobieren, die es erlaubt, einen Entwurf zu schaffen, der dem Dialog und dem improvisierten Spiel Platz lässt». Choffat spielt denn auch gekonnt mit den Emotionen seiner Protagonistinnen und Protagonisten, lässt sie zwischen Freude und Begeisterung, Wut und Elend hin- und herpendeln.

In der Konfrontation zweier Personen konzentriert er sich auf die kleinsten Zeichen der Kommunikation. Die Nähe der Kamera erlaubt diesen intimen Einblick in die Gefühlswelt der erfrischend lockeren Schauspieler. Nicht nur die Handlung und die Schauspieler vermögen zu überzeugen, auch die Kameraarbeit erweist sich als äusserst schwungvoll. Schon auf die erste Einstellung folgt ein erster Höhepunkt: eine knapp vierminütige Plansequenz, in der die Hauptfiguren auf ihrem Weg quer durch den Bahnhof von Genf begleitet werden. Damit gibt Choffat auch gleich den Rhythmus des Films vor.

Fazit: «La vraie vie est ailleurs» ist eine rastlose Fahrt durch die Nacht, in der selbst die ruhigen Momente in den engen Zugsabteilen ihre Spannung nicht verlieren.

Bewertung: 5 Sterne

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